Interview Christoph M. Schmidt

Was war das Highlight in Ihrer Zeit beim Sachverständigenrat Wirtschaft?

Mein persönliches Highlight waren die Zusammenarbeit und das sehr intensive Miteinander in einem zeitlich relativ stabilen und charakterlich herausragenden Team, das miteinander lange Tage verbracht, Reisen unternommen und intensive Diskussionen geführt hat. Wir hatten ein sehr gutes persönliches Verhältnis untereinander – ungeachtet der oft kontroversen, manchmal zugespitzten und bisweilen sogar emotionalen Debatten. Das hat eine Menge Freude gemacht. Ich empfand es als unheimlich bereichernd, ständig von hervorragenden Fachleuten zu lernen, im Rat wie im Stab, und ab und an auch etwas mitgeben zu können.

Inhaltlicher Höhepunkt und für mich nach langer Amtszeit im Vorsitz wie eine Schlussfanfare war das Sondergutachten zur Klimapolitik 2019. Seit dem Jahr 2011 hatte ich federführend die klimapolitischen Analysen des Sachverständigenrates koordinieren dürfen; diese dann im Sondergutachten zu einem vergleichsweise wirksamen Gutachten weiterzuentwickeln, war nicht zuletzt auch ein herausragendes Beispiel für die positive Wirkmächtigkeit des Rates.

Was hat die Zusammenarbeit ausgemacht?

Mein Eindruck war, dass sich alle Teammitglieder der Mission des Rates und seinem gesetzlichen Auftrag verpflichtet fühlten: die gesamtwirtschaftliche Entwicklung kompetent, sorgfältig und zeitnah zu begutachten, dabei differenziert zu bleiben sowie Argumente und Evidenz aus verschiedenen Richtungen zu gewichten. Dazu gehörte auch, Fehlentwicklungen früh festzustellen und mögliche Wege zu weisen, wie man diese abwenden oder mit ihnen umgehen kann. Wir wollten damit als Anker einer informierten wirtschaftspolitischen Debatte dienen und Interessierten helfen, ihr eigenes Urteil zu schärfen.

Das war sicher mit viel Einsatz verbunden?

Ja, das erforderte eine hohe Einsatzbereitschaft. Bis zur Veröffentlichung des Jahresgutachtens war immer viel Kraft und Intensität notwendig, in den Wochen nach der Übergabe wurde ich dann häufig von einer fiebrigen Erkältung heimgesucht, so auszehrend war die sogenannte Kampagne. Aber eine besondere Ermutigung zu diesem Einsatz habe ich nie gebraucht: Zu wichtig ist die Aufgabe des Rates. Vielmehr habe ich es immer so gesehen, dass ich zwar im Hauptamt am RWI in einer Institution wirke, die in der ersten Liga ihrer Disziplin spielt, in der Bundesliga sozusagen, aber dass der Rat so etwas ist wie die Nationalmannschaft. Nicht zuletzt arbeiten im wissenschaftlichen Stab ausgesucht leistungsbereite und kompetente junge Menschen, die Spaß daran haben, sich auf der Stelle in neue Themen hineinzufräsen.

Was war Ihr Anspruch als Vorsitzender?

Mein Ziel war, am Ende der Amtszeit sagen zu können, einen Unterschied gemacht zu haben. Drei Aspekte waren mir besonders wichtig. Erstens wollte ich dazu beitragen, dass wir uns als evidenzbasiert arbeitendes wirtschaftspolitisches Gremium etablieren. Das ist zweifellos gelungen. Zweitens wollte ich darauf hinwirken, dass wir als erstes ökonomisches Gremium neue wichtige Themen wie die Klimapolitik oder die ganzheitliche Wohlfahrtsberichterstattung aufgreifen. Auch das hat geklappt. Drittens war es mein Ziel, die Internationalisierung voranzutreiben. Und da haben wir es unter anderem geschafft, regelmäßig ein weltumspannendes Netzwerk aus Sachverständigenrats-ähnlichen Gremien zusammenzuführen.

Wie hat sich der SVR über die Zeit gewandelt?

Während man vor 20 oder 30 Jahren vergleichsweise lange Fließtexte, weniger mundgerechte Formulierungen, weniger Absatzschaltungen und lange, wundervoll formulierte, aber schwer verdauliche Sätze sowie wenige Literaturangaben genutzt hat, haben wir unter anderem versucht, immer kompakter und knackiger zu formulieren. Vor allem stand für uns die Evidenzbasierung im Mittelpunkt. Wenn Sie heute in die Ratsgutachten hineinschauen und sehen, wie viel empirische Evidenz dort angeführt wird, wie viele international publizierte Studien zitiert werden, hat das schon was ganz eine ganz andere Anmutung als die eher ordnungspolitisch geprägte Diskussion des vergangenen Jahrhunderts.

Welchen Gesetzgebungsprozess in der Politik hat der SVR besonders beeinflusst?

Generell ist es sehr schwierig, den Erfolg oder die Wirkung des Sachverständigenrats empirisch festzuhalten. Denn kluge Ideen werden häufig von vielen mehr oder weniger im gleichen Zeitraum vorgebracht und man kann dann bestenfalls einen Beitrag dazu leisten, dass die Diskussion in die richtige Richtung geht. Immer wieder direkten Einfluss zu nehmen, ist für ein Gremium besonders schwierig, bei dem die Unabhängigkeit so prägend ist wie beim Rat. Nichtsdestoweniger hat die Arbeit des Sachverständigenrates einen großen praktischen Nutzwert. Es gilt, schlechte Entscheidungen zu verhindern und gute vorzubereiten. Wie oft es gelingt, schlechte Entscheidungen zu verhindern, lässt sich natürlich noch schwerer messen als die Vorbereitung guter Politik. Denn sie werden ja nicht getroffen.

Haben Sie nicht doch noch ein positives Beispiel?

Wo unser langes Wirken dann nach langer Zeit doch etwas bewirkt haben dürfte, ist die Klimapolitik. Ab 2011 haben wir in jedem Jahr ein Kapitel oder einen großen Abschnitt dazu verfasst. Im Frühjahr 2019 hat die Kanzlerin dann gesagt: „CO2-Bepreisung klingt interessant, aber ich würde das gerne besser verstehen. Es wäre prima, wenn Sie dazu mal etwas aufschreiben könnten.“ Das haben wir als Anstoß genommen, ein Sondergutachten zu erstellen. Anschließend gab es endlich die Einführung eines – wenn auch homöopathisch kleinen – CO2-Preises für Wärme und Mobilität. An diesem Paradigmenwechsel haben wir mitgewirkt.

Wo hatten Sie gar keinen Erfolg?

Am wenigsten bewirkt haben wir in meiner Amtszeit wohl in der Rentenpolitik der Bundesregierung. Das war ein frustrierendes Erlebnis. Denn wir laufen für alle erkennbar auf den demografischen Wandel zu. Dieses Jahrzehnt wird das Jahrzehnt der Verrentung der Babyboomer-Generation. Das wussten wir auch schon vor 10 oder 20 Jahren. In den 2000er-Jahren war das Rentensystem noch demografiefester gestaltet worden – und in den 2010er-Jahren wurde das Rad dann wieder zurückgedreht. Unsere massiven Einwände blieben ungehört.

Wie wird der Sachverständigenrat in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Ich muss schmunzeln, weil eigentlich jedes Jahr vor der Veröffentlichung des Gutachtens eine Reihe von Artikeln erscheinen, in denen der Sachverständigenrat als nicht mehr so wichtig beschrieben wird. In solchen Momenten fragt man sich, warum dann alle gleichzeitig dazu berichten. Das erinnert ein bisschen an Yogi Berra, den amerikanischen Sepp Herberger, seines Zeichens Catcher der goldenen Ära der New York Yankees im Baseball Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Er hat eine schöne Begründung dafür geliefert, warum er in New York nicht mehr ins Restaurant ginge: „Nobody goes there anymore, it’s too crowded.“

Welche Eigenschaften muss ein oder eine Politikberater:in mitbringen?

Mich hat früh der Sport geprägt, als Handballer war ich Kreisläufer und damit oft dort, wo man ständig körperliche Schmerzen ertragen muss. Aber um Erfolg zu haben, muss man halt dorthin gehen, wo es weh tut – und das ist auch bei der Politikberatung nicht anders. Man muss den Mumm haben, auch unbequeme Positionen mit Stringenz zu verfolgen, wenn man sie für richtig hält.  Darüber hinaus sollte man einen klaren Kompass haben, gleichzeitig aber offen gegenüber anderen Gewichtungen und Positionen sein. Natürlich darf man seine Meinung ändern, wenn man bessere Argumente sieht. Aber Geradlinigkeit ist ein ganz wichtiges Element. Das erfordert dann häufiger auch mal Zivilcourage. Zudem sollte man seine Grenzen kennen und wissen, in welchen Bereichen man kompetent ist und in welchen nicht.

Welche Rolle wünschen Sie sich für den Sachverständigenrat Wirtschaft in der Zukunft?

Ich wünsche mir für den Sachverständigenrat, dass er sich auch zukünftig weiterentwickelt, was die Themen angeht, und methodisch immer am aktuellen Rand kompetent bleibt. Ansonsten hoffe ich, dass der Rat weiterhin seine angestammte Rolle als konstruktives, unabhängiges Gremium spielt und es immer wieder schafft, Kolleginnen und Kollegen zu berufen, die auch den Mumm haben, unabhängige und unbequeme Positionen zu vertreten, um für die marktwirtschaftliche Ordnung einzustehen. Wenn nicht der Sachverständigenrat das macht, wer sonst?