Interview Monika Schnitzer

Wie war Ihr Start beim Sachverständigenrat Wirtschaft?

Intensiv. Ich bin mitten in der Corona-Pandemie gestartet, dann kam der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die dadurch ausgelöste Energiekrise. Es galt also, gleich von 0 auf 100 durchzustarten. Ich mache schon mehr als zwanzig Jahre Politikberatung, aber eine so intensive Zeit habe ich vorher noch nicht erlebt. Täglich wurden wir mit ganz neuen Problemen konfrontiert, für die es keine Blaupausen gab. Das war einerseits extrem spannend, aber wir hätten wohl alle gut darauf verzichten können.

Was schätzen Sie besonders an der Zusammenarbeit?

Was ich enorm schätze, ist das Engagement und die Fachkompetenz der Kolleginnen und Kollegen im wissenschaftlichen Stab, in der Geschäftsstelle und im Rat. Gerade im Stab gibt es sehr viel Dynamik, weil immer wieder neue Leute dazu stoßen und neue Themen und Erfahrungen einbringen. Die Ratsdiskussionen sind sehr intensiv. Jeder ist gezwungen, seine Argumente zu schärfen, um die anderen zu überzeugen. Das ist manchmal mühsam, aber man lernt auch viel dazu und die Texte gewinnen dabei.

Wie würden Sie den Wandel des Sachverständigenrates beschreiben?

Mir scheint, das Themenspektrum hat sich deutlich erweitert. Früher standen die klassischen Themen wie Konjunktur, Geld- und Fiskalpolitik und öffentliche Finanzen im Vordergrund. In den letzten zehn Jahren sind vermehrt auch Themen wie Energie, Klimapolitik, Arbeitskräftemangel und Digitalisierung dazugekommen. Das erklärt sich durch die neuen Herausforderungen und reflektiert das Themenspektrum der neuen Ratsmitglieder.

Auch das methodische Spektrum hat sich in den letzten Jahrzehnten erweitert. Wie in der ökonomischen Forschung insgesamt spielt auch in der Politikberatung die empirische Evidenz inzwischen eine immer wichtigere Rolle. Schon unsere Vorgänger:innen haben auf Evidenzbasierung gepocht. Oft können Maßnahmen sowohl einen positiven als auch einen negativen Effekt haben. Welcher davon dominiert, kann nicht allein theoretisch, sondern nur mit einer empirischen Analyse beantwortet werden. Der Rat arbeitet aber nicht nur die empirische Literatur dazu auf, sondern macht seit rund fünfzehn Jahren auch immer mehr eigene empirische Analysen. Neu dazugekommen sind in jüngster Zeit verhaltensökonomische Ansätze. In der Wissenschaft ist das inzwischen ein etabliertes Feld. In der Politikberatung sind diese Ansätze noch zu wenig präsent. Das auszubauen, wäre sehr gewinnbringend.

Wie kommen Sie zu Ihren Empfehlungen?

Der Rat beschäftigt sich mit vielen komplexen Fragen, zu denen es keine einfachen Antworten gibt. Wir müssen uns bei vielen Fragen erst einmal beraten und Argumente austauschen. Gerade bei den aktuellen Krisen ist nicht bei jeder Frage offensichtlich, wie die richtige Antwort lautet, sonst bräuchte es ja auch kein Expertengremium, das sich in vielen Sitzungen mit Analysen dazu auseinandersetzt. Wichtig ist, an diese Fragen offen heranzugehen und bei neuen Erkenntnissen auch die Einschätzung zu revidieren. Das ist Wissenschaft, so funktioniert wissenschaftlicher Fortschritt – auch wenn das Außenstehenden nicht immer leicht zu vermitteln ist.

Sie sprachen eben über die Diskussionen im Sachverständigenrat. Was hat sich verändert?

In unseren Diskussionen sind die Stabsmitglieder intensiv eingebunden, noch stärker als früher. Davon profitieren unsere Analysen und Schlussfolgerungen, denn sie haben Spezialwissen und bereiten die inhaltliche Arbeit sehr gründlich vor. Eine Diskussionskultur, bei der man sich gegenseitig zuhört, bevor man selbst zu einem Urteil kommt, ist mir sehr wichtig. Mein eigener Ansatz ist, möglichst viele Informationen von anderen Expert:innen einzuholen und in der Zusammenschau mit meinen eigenen Analysen und Bewertungen zu einem eigenen Urteil zu kommen.

Warum ist wissenschaftliche Politikberatung so wichtig?

Die Politik muss für ihre Entscheidungsfindung eine Informationsgrundlage haben. Wo soll sie diese hernehmen? Es gibt Lobbygruppen, die Informationen bereitstellen. Das tun sie aber nicht ganz uneigennützig, sie vertreten auch bestimmte Interessen. Im Unterschied dazu liefert die Wissenschaft Informationen und Analysen mit dem Anspruch, nicht interessengeleitet zu sein, sondern zu versuchen, so objektiv wie möglich zu sein. Natürlich haben auch Wissenschaftler:innen persönliche Anschauungen und Präferenzen, man wählt eine bestimmte Partei, war vielleicht bei der Bundeswehr oder hat Kinder. Trotzdem ist man als Wissenschaftler:in verpflichtet, nach bestem Wissen und Gewissen Dingen auf den Grund zu gehen und nur wissenschaftlich abgeleitete und belegbare Erkenntnisse zu berichten. Darüber hinaus sollte man die Annahmen, die der Analyse zugrunde liegen, offenlegen und dokumentieren, wenn es etwaige finanzielle Abhängigkeiten gibt. Im Ethikkodex des Vereins für Socialpolitik werden diese Prinzipien sehr gut festgehalten. Eine unabhängige Politikberatung ist übrigens nicht nur für die Politik direkt wichtig, sondern auch für die Öffentlichkeit, die darauf vertrauen können soll, nicht interessengeleitet informiert zu werden.

Wie kann der Sachverständigenrat Einfluss nehmen?

Wir können auf zwei Arten Einfluss auf die Politik nehmen. Die vielleicht wichtigste Aufgabe ist es, schlechte Maßnahmen zu verhindern, indem wir Nachteile benennen und Gegenargumente aufzeigen. Zunehmend wichtig ist es aber auch, konkrete Vorschläge zu machen, die helfen, geeignete Maßnahmen zu entwickeln. Das ist typischerweise schwieriger, weil wir dafür tiefer in die institutionellen Details gehen müssen, aber dafür auch konstruktiver.

Welchen Stellenwert hat der Sachverständigenrat in der Öffentlichkeit?

Wie stark der Sachverständigenrat in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, hängt davon ab, wie hoch gerade der Bedarf ist, über wirtschaftliche Themen zu sprechen. In den letzten drei Jahren war der Bedarf besonders groß. Das sieht man auch an der Medienresonanz. Die Ratsmitglieder waren früher sicher genauso bereit, Interviews zu geben und in Talkshows zu gehen, aber in ,normalen‘ Zeiten ist das Medieninteresse einfach nicht so hoch. Gerade in Krisenzeiten sind die Expert:innen gefragt, die erklären und einordnen. Das erklärt, warum der Rat zuletzt so häufig in den Medien sichtbar war.

Sehen das alle Wissenschaftler:innen so?

Wer als Wissenschaftler:in forscht, um etwas herauszufinden, der will auch, dass das Wissen von anderen genutzt werden kann. Das ist zumindest mein Anspruch. Deshalb muss man sich die Mühe machen, seine Ergebnisse zu übersetzen – man kann auf andere warten, die die Artikel entdecken und in die Diskussion einbringen, oder man kann selbst Übersetzungsarbeit leisten. Mittlerweile sind immer mehr Wissenschaftler:innen bereit dazu.

Das setzt aber voraus, dass wir verständlich formulieren, in einer Sprache, die nicht nur von einem Fachpublikum verstanden wird. Das müssen wir auch in den verschiedenen Formaten unserer Publikationen berücksichtigen. Denn Politikberatung richtet sich nicht nur direkt an die politischen Entscheidungsträger:innen. Unser gesetzlicher Auftrag ist auch, die Öffentlichkeit zu informieren. Sie soll sich ein Urteil bilden können. Die Literatur zeigt, dass Beratung nur dann gut funktioniert und angenommen wird, wenn die Menschen nachvollziehen können, warum man bestimmte Vorschläge macht und auf Grundlage welcher Fakten und Analysen.

Sie machen jetzt seit über 20 Jahren Politikberatung. Welche Eigenschaften sind dafür nötig?

Frustrationstoleranz und Demut. Frustrationstoleranz, weil die eigenen Ideen oder Vorschläge sich eben nicht gleich in einem Gesetz wiederfinden. Demut, weil wir ja nur einen Teil der für die Politik relevanten Aspekte abdecken, die ökonomischen. In der politischen Abwägung spielen aber auch andere Aspekte eine Rolle. Wenn wir eine bestimmte Maßnahme ökonomisch für sinnvoll halten, kann es sein, dass es weitere Aspekte gibt, die gegen diese Maßnahme sprechen – etwa soziale Folgen oder die außenpolitische Wirkung. Das abzuwägen ist nicht unser Kompetenzbereich, wir sind keine gewählten Politiker:innen.

Wichtig ist schließlich die Bereitschaft zur Kommunikation: zum Zuhören und zum Erklären. Man muss zuhören und verstehen, welche Themen für die Wirtschaftspolitik gerade relevant sind und sich auch auf institutionelle Details einlassen. Und man muss die eigenen Analysen und Erkenntnisse daraus verständlich kommunizieren.

In welcher Rolle sehen Sie den Sachverständigenrat in der Zukunft? Was wünschen Sie sich?

Ich würde mir wünschen, dass wir mit unseren Analysen und Berichten noch mehr Menschen erreichen, die Politiker:innen einerseits, aber auch weitere Kreise der Bevölkerung, vor allem auch die jüngeren Menschen. Umso wichtiger wird dafür die verständliche und zielgruppengenaue Kommunikation. Methodisch sollten wir weiter auf die Evidenzbasierung unserer Berichte setzen. Wir sollten aber auch verhaltensökonomische Erkenntnisse stärker berücksichtigen. Wenn wir über Anreize durch Steuern und Subventionen sprechen, gehen wir typischerweise von vollständig informierten und rationalen Akteuren aus. Aus der Verhaltensökonomie wissen wir, dass Menschen nicht immer so auf Anreize reagieren, wie wir es in der Theorie erwarten. Das sollten wir in unsere Analysen einbeziehen. Und schließlich fände ich es gut, wenn wir mit unseren Berichten die Aufmerksamkeit auf neue Themen lenken würden, die bisher vielleicht noch nicht so sehr im Fokus stehen, von denen wir aber erwarten, dass sie künftig für unsere Wirtschaft eine wichtige Rolle spielen werden. Aktuellstes Beispiel ist die rasante Entwicklung von Chat GPT und die Frage, wie künstliche Intelligenz unsere Arbeits- und Geschäftswelt verändern wird und welche wirtschaftspolitischen Antworten notwendig werden.