Jahresgutachten 2018/19: Was Deutschland jetzt tun muss

In einem Gastbeitrag in der Welt am Sonntag erläutern die Ratsmitglieder Peter Bofinger, Lars P. Feld, Christoph M. Schmidt, Isabel Schnabel und Volker Wieland die Handlungsfelder für die Politik im Gesundheitssystem, im Steuerwettbewerb, in der Bankenregulierung, auf dem Immobilienmarkt und in der Europäischen Geldpolitik. Der Beitrag erschien zur Veröffentlichung des Jahresgutachtens 2018/19 am 11. November 2018.

Den vollständigen Beitrag finden Sie hier (Paywall).

1. Gesundheitssystem

Christoph Schmidt, Präsident RWI-Leibniz-Institut, Essen

Ein funktionierendes und allen zugängliches Gesundheitswesen ist ein unverzichtbarer Bestandteil der grundlegenden Versorgung. Zugleich ist es von erheblicher Bedeutung für Wertschöpfung und Beschäftigung. Doch das Gesundheitssystem wird zunehmend in die Zange genommen. Zum einen heizen die Alterung der Gesellschaft und der medizinisch-technische Fortschritt die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen an. Zum anderen verstärkt der demografische Wandel die bereits jetzt erkennbaren Fachkräfteengpässe. Es ist daher geboten, Effizienzpotenziale zu erkennen und zu heben.

Gelegenheit dazu gibt es zuhauf. Kein anderes Land in Europa hat so viele Krankenhausbetten je Einwohner, eine längere Krankenhausaufenthaltsdauer und so viele kleine und wenig spezialisierte Krankenhäuser. Auch wenn es für die Beschäftigten und Anwohner vor Ort nicht direkt zu erkennen ist: Deutschland braucht weniger Krankenhäuser und mehr spezialisierte Kapazitäten in den Häusern, die bleiben.

Der für diese Strukturbereinigung von der Bundesregierung eingeführte Strukturfonds sollte entsprechend genutzt werden. Da die Länder offenbar ihren Verpflichtungen für die Finanzierung der Investitionskosten der Krankenhäuser nicht hinreichend nachkommen, sollte deren Finanzierung wie die der Betriebskosten ganz bei den Krankenhäusern angesiedelt werden. Jedes Krankenhaus könnte dann in Eigenregie entscheiden, wie es mit seinem Budget verfährt.

Auf dem Krankenversicherungsmarkt haben Zusatzbeiträge den Kassenwettbewerb bereits belebt. Langfristig sollte die Einkommensumverteilung über den Beitrag zur gesetzlichen Krankenkasse ganz aus dem Versicherungssystem herausgenommen und vollständig ins Steuersystem überführt werden. Wünschenswert wäre es, einkommensunabhängige Zusatzbeiträge auszubauen, um letztlich eine Bürgerpauschale mit einem aus Steuermitteln finanzierten sozialen Ausgleich zu erreichen.

Eine regional differenzierte Lockerung des für Krankenkassen verpflichtenden Vertragsabschlusses mit jedem Krankenhaus, des sogenannten Kontrahierungszwangs, würde den Kassen die Möglichkeit geben, Selektivverträge abzuschließen. Damit würde der Druck auf qualitätsarme Krankenhäuser erhöht. Selektivverträge ermöglichen es zudem, den ambulanten und stationären Sektor stärker zu verflechten und so die Versorgung effizienter zu gestalten.

 

2. Steuerwettbewerb

Lars Feld, Chef des Walter-Eucken-Instituts, Freiburg

Seit fast zehn Jahren dauert die steuerpolitische Schläfrigkeit der deutschen Politik nun schon an. Die Konkurrenz schläft jedoch nicht. Eine Reihe von Staaten hat jüngst seine Unternehmenssteuern reformiert. Sogar Frankreich kündigte eine Senkung der Gewinnsteuersätze bis zum Jahr 2022 auf 25 Prozent an. In den USA ist der Körperschaftsteuersatz zum Beginn dieses Jahres von 35 auf 21 Prozent gesunken. Mehrere weitere Reformelemente verschaffen den USA eine günstige Position im internationalen Steuerwettbewerb.

In Deutschland sind die Belastungen der Gewinne durch Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer hingegen gestiegen. Im Jahr 2017 lag der tarifliche Steuersatz im Durchschnitt bei 31,6 Prozent. Deutschland befindet sich damit fast schon in der Spitzenposition aller OECD-Länder.

Die steuerliche Attraktivität des Standorts Deutschland lässt sich mit einer Reduktion der Steuersätze erhöhen. Ein erster Schritt bestünde darin, den Solidaritätszuschlag vollständig abzuschaffen. Rund 40 Prozent der Einkünfte, die gemäß dem Koalitionsvertrag ab dem Jahr 2021 noch dem Soli unterliegen sollen, stammen aus unternehmerischer Tätigkeit. Hinzu kommen die Belastungen der Kapitalgesellschaften und ihrer Anteilseigner. Als Zuschlag auf die Körperschaftsteuer erhöht der Soli die Belastung um 0,8 Prozentpunkte.

Zudem könnte eine Zinsbereinigung des Grundkapitals Finanzierungsneutralität herstellen und die Diskriminierung der Beteiligungsfinanzierung beenden. Dies würde insbesondere Start-ups, die kaum Fremdkapital erhalten oder auf einbehaltene Gewinne zurückgreifen können, einen besseren Zugang zu Eigenkapital eröffnen. Die Zinsbereinigung würde jährliche Mindereinnahmen von 2,8 bis 5,6 Milliarden Euro verursachen.

Schließlich könnte die Bundesregierung neben der geplanten steuerlichen Forschungsförderung die Einführung einer Patentbox in Erwägung ziehen. Der Nexus-Ansatz der OECD erfordert einen tatsächlichen Beitrag des Unternehmens zur Forschung in Ländern mit Patentbox, Steuervergünstigungen müssen also direkt an Forschungsausgaben geknüpft sein. Angesichts der Beliebtheit solcher Regelungen droht Deutschland schon bald als einziges Land ohne Patentbox dazustehen. Aufgrund des Nexus-Ansatzes dürfte dies die Abwanderung von Forschungsaktivitäten in Länder mit Patentbox nach sich ziehen. Es ist also Zeit zu handeln.

 

3. Bankenregulierung

Isabel Schnabel, Finanzmarktprofessorin Uni Bonn

Die jüngsten Ereignisse in Italien rufen schlechte Erinnerungen wach. Der Anstieg der Zinsprämien bei Staaten und Banken erinnert an die Euro-Krise, die den Währungsraum tief erschütterte. Die Währungsunion und das europäische Bankensystem scheinen noch immer nicht stabil zu sein – trotz Bankenunion und unzähliger neuer Regulierungen. Der Grund ist, dass nach wie vor wesentliche Elemente fehlen.

Ziel der Bankenunion ist es, die enge Verbindung zwischen Banken und Staaten zu lockern. Denn die Krise wurde damals dadurch verschärft, dass schwache Banken mit staatlichen Geldern gerettet werden mussten, was die Verschuldung vieler Staaten deutlich in die Höhe trieb. Ebenso litten Banken unter den Risiken ihrer Staaten, wenn sie in großem Umfang deren Staatsanleihen hielten. Schwache Banken vergaben weniger Kredite, was die Konjunktur und damit wiederum den Staatshaushalt belastete.

Deshalb wurde im Euro-Raum beschlossen, dass Banken künftig nicht mehr mit Staatsgeldern gerettet werden sollen, sondern Eigentümer und Gläubiger der Banken die Kosten zu tragen haben. Das Problem der hohen Staatsanleihebestände in den Bankbilanzen wurde jedoch nicht angegangen. Noch immer werden den Banken durch die Regulierung Anreize gesetzt, in Staatsanleihen zu investieren.

Eine Regulierung der Staatsanleihen, zum Beispiel über Höchstgrenzen oder eine Eigenkapitalunterlegung, scheitert nicht allein am Widerstand der hoch verschuldeten Länder. Selbst Deutschland macht sich hierfür nicht besonders stark – denn die deutschen Banken wären davon besonders stark betroffen.

Eine Verbindung zwischen Banken und Staat besteht auch über die nationalen Einlagensicherungssysteme. Deren Glaubwürdigkeit beruht immer auf einer impliziten Garantie des Staates, denn die Fonds sind zu viel klein, um die Risiken großer Krisen abzudecken. Eine europäische Einlagensicherung könnte die hierdurch geschaffene Verbindung von Banken und Staaten lockern. Allerdings dürften hierüber keine staatlichen Ausfallrisiken auf die europäische Ebene verschoben werden. Genau das könnte aber passieren, wenn Banken in so starkem Maße wie bisher ihre Staaten finanzieren.

Eine Regulierung von Staatsanleihen ist daher der Schlüssel für weitere Reformen, um das europäische Finanzsystem nachhaltig zu stabilisieren. Es wäre ein wesentlicher Schritt in Richtung eines echten europäischen Bankensystems.

 

4. Immobilienmarkt

Peter Bofinger, VWL-Professor Uni Würzburg

In deutschen Ballungszentren sind Immobilienpreise und Angebotsmieten massiv gestiegen. Dies ist vor allem Ausdruck der wachsenden Attraktivität großer Städte, in denen seit Mitte der 2000er-Jahre immer mehr Menschen wohnen. Aus makroökonomischer Sicht stellt sich dabei die Frage, inwieweit sich daraus Gefahren für die Finanzstabilität ergeben können, zumal ungewöhnlich niedrige Zinsen die Nachfrage zusätzlich angeheizt haben.

Wenngleich Preisübertreibungen in Großstädten nicht ausgeschlossen werden können, sind auf der Angebotsseite bisher keine Fehlentwicklungen zu erkennen. Bei einer moderaten Kreditentwicklung, langen Zinsbindungen und einer vergleichsweise geringen Verschuldung der privaten Haushalte können akute Risiken für die Finanzstabilität derzeit ausgeschlossen werden.

Aus sozialpolitischer Sicht stellen stark steigende Mieten und zunehmende Schwierigkeiten für Haushalte mit geringeren Einkommen, eine angemessene Wohnung zu finden, eine große Herausforderung dar. Zudem müssen neue soziale Brennpunkte vermieden werden. Einfache und schnelle Lösungen gibt es nicht.

Die Mietpreisbremse ist nur eine Symptomtherapie, da sie zwar den Wohnungssuchenden hilft, denen es gelingt, eine Wohnung zu erlangen („Insider“). Wer dabei jedoch leer ausgeht („Outsider“) hat es noch schwerer, zum Zuge zu kommen, da die Mietpreisbremse das Angebot an regulären Wohnungen reduziert. In München und Stuttgart wird heute fast jede zweite Wohnung möbliert angeboten. Zudem steigen die Mieten bei den unregulierten Neubauwohnungen noch stärker an.

Zielführend ist demgegenüber eine Stärkung des Wohngelds. Als Instrument der Subjektförderung greift es nicht direkt in Marktprozesse ein. Ausgeweitet werden sollte das Angebot an günstigen Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus. Das bayerische Wohnraumförderungsgesetz zeigt, dass es dabei möglich ist, eine ausgewogene Struktur der Haushalte zu erreichen und Fehlbelegungen zu vermeiden.

Um privaten Haushalten das Wohnen in der eigenen Immobilie zu erleichtern, sollte die Möglichkeit geschaffen werden, im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge erworbenes Kapital zur Finanzierung des Immobilienkaufs einzusetzen.

 

5. Europäische Geldpolitik

Volker Wieland, Professor für monetäre Ökonomie, Frankfurt

Die Inflation im Euro-Raum ist nahe zwei Prozent, die Wirtschaftsleistung schon über Potenzial. Das ist eigentlich „Normalniveau“. Aber die EZB-Politik bleibt im Krisenmodus mit Negativzinsen und steigender Notenbankbilanz. Lediglich ein Stopp der Nettoanleihekäufe ist für das Jahresende in Aussicht gestellt. Den Negativzins will sie nicht vor Herbst 2019 abschaffen.

Die Europäische Zentralbank (EZB) läuft Gefahr, die geldpolitische Wende zu spät einzuleiten. Das heißt, die Inflation könnte schneller steigen, es könnten noch mehr riskante Kredite vergeben, unproduktive Investitionen getätigt und Ressourcen falsch eingesetzt werden. Finanzstabilitätsrisiken würden weiter zunehmen.

Die EZB könnte die Zinsen früher anheben. Außerdem müsste sie dringend erklären, wann und wie schnell sie ihre Bilanz reduziert. Sie sollte nicht auf so viel Staatsanleihen sitzen bleiben, sondern die Bestände abbauen. Das reduziert die hohe Überschussliquidität. Die TARGET2-Salden würden zurückgehen. Das betrifft die hohen Forderungen der Bundesbank gegenüber dem Euro-System und die hohen Verbindlichkeiten der italienischen, portugiesischen und spanischen Notenbanken.

Hohe Staatsanleihebestände schaffen Begehrlichkeiten, Staatsfinanzen zulasten der Notenbankbilanz zu sanieren. Zuletzt hat der italienische Europaminister seine Idee dazu vorgestellt. Solchen Versuchen, das Verbot der monetären Finanzierung zu durchbrechen, ist entschieden entgegenzutreten.

Die Regierungen müssen selbst dazu beitragen, den Euro-Raum dauerhaft zu stabilisieren. Sie nutzen die gute Entwicklung nicht, um zu konsolidieren und Spielraum für einen Abschwung zu gewinnen. Sie sind dafür verantwortlich, ihre Politik so zu gestalten, dass sie sie aus eigener Kraft finanzieren können. Souveränität heißt, für eigene Entscheidungen geradezustehen.

Sollte die Regierung in Rom den Konfrontationskurs fortsetzen, ist eine krisenhafte Zuspitzung nicht völlig auszuschließen. Droht der Marktzugang verloren zu gehen, dient der ESM als Krisenmechanismus. Er gibt auf Antrag Kredit gegen strenge Auflagen. Kontraproduktiv wäre es, fiskalische Mittel ohne Bedingungen zu geben, etwa durch eine neue Fiskalkapazität. Dies würde Marktdisziplin aushebeln und erlauben, länger auf Konflikt zu setzen.